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Behördliche Dokumentation der Pestizidvergiftungen unterschätzt die tatsächliche Situation.

02.06.2016, PAN Germany Pestizid-Brief 1-2016, Dr. Wolfgang Bödeker

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12 % der gemeldeten Glyphosatvergiftungen zeigen mittleren oder schweren Verlauf.

Hintergrund

Für den größten Teil der Chemikalien liegen keine Informationen über ihre Wirkung auf die menschliche Gesundheit vor. Eine systematische Erfassung und Dokumentation von Vergiftungsfällen ist daher als Ergänzung zu den im Rahmen von Stoffregistrierung oder Zulassung geforderten toxikologischen Daten aus Tierversuchen unverzichtbar.

In Deutschland existiert seit 1990 durch das Chemikaliengesetz eine ärztliche Meldepflicht für Vergiftungen. §16 e Abs. 2 ChemGes Dort werden Ärzte verpflichtet, schon bei Verdacht auf eine Vergiftung dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) Mitteilung über den Fall und die beteiligten Stoffe zu geben (siehe Kasten). Die ärztlichen Mitteilungen erfassen grundsätzlich auch Pestizidvergiftungen. Da es aufgrund des verbreiteten Einsatzes von Pestiziden in Landwirtschaft und Haushalten unvermeidlich zu Vergiftungsfällen kommt, könnte ein geeignetes Monitoring wichtige Informationen über die zeitliche Entwicklung der Vergiftungszahlen, über problematische Stoffe und Zubereitungen sowie über etwaige Erfolge von gesetzlichen Regulierungen liefern. Das BfR veröffentlicht zwar die zusammengefassten ärztlichen Mitteilungen in Berichten, allerdings nur unregelmäßig, mit großem Zeitversatz und ohne Veröffentlichungsdatum. Anscheinend im ersten Quartal 2016 ist der Bericht für den Zeitraum 2011-2013 erschienen, während der bis dahin aktuellste Bericht das Meldejahr 2010 abdeckte. Die Berichte sind zudem anekdotisch angelegt und erlauben keine genaue Analyse des Vergiftungsgeschehens. Die Darstellung erfolgt nur nach grob gefassten Gruppen ("Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel"), die weder mit den legislativen Differenzierungen nach Verwendungsarten übereinstimmen, noch Informationen zu Wirkstoffen oder Wirkstoffgruppen gestatten.

Was wird gemeldet?

Um einen besseren Einblick in das Meldegeschehen zu bekommen, hat PAN Germany auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) das BfR um Angaben gebeten, für welche pestiziden Wirkstoffe Vergiftungen gemeldet wurden. Als amtliche Information fallen die Vergiftungsmeldungen grundsätzlich in den Anwendungsbereich des IFG. Das BfR ist aber der Auffassung, dass wegen der gesetzlich geforderten Vertraulichkeit Rückschlüsse auf die Hersteller und die Handelsnamen der Stoffe ausgeschlossen sein müssen. Das Amt stellt daher nur Informationen zu Wirkstoffen zur Verfügung, bei denen ein Rückschluss nicht erfolgen kann, da sie z.B. durch mehrere Hersteller vertrieben werden.

In der nachfolgenden Tabelle sind die Meldungen an das BfR über Vergiftungen durch Pestizide zusammengefasst. Insgesamt erfolgten im Zeitraum 2005-2010 569 Meldungen zu Vergiftungen mit Pestiziden, d.h. durchschnittlich 95 Vergiftungsmeldungen pro Jahr. Bei 57 Wirkstoffen erfolgte aus den oben genannten Gründen eine Schwärzung des Wirkstoffnamens. Zudem liegen für ca. ein Drittel der Meldungen keine Angaben zum Wirkstoff der betroffenen Pestizidprodukte vor. Die 250 Mitteilungen mit übermittelten Informationen zu Wirkstoffen betrafen 92 Stoffe bzw. Stoffgruppen.

Glyphosat zeigt vergleichsweise hohe Vergiftungszahlen

Mit insgesamt 44 Meldungen ist Glyphosat das Pestizid, das zu den meisten Vergiftungsmitteilungen geführt hat. Es handelt sich auch um den einzigen Wirkstoff, für den Meldungen aus jedem Jahr vorliegen und der im Jahr 2010 mit 10 Vergiftungsmeldungen eine Zunahme gegenüber dem Mittelwert zeigt. Mit deutlichem Abstand folgen Parathion und Lambda-Cyhalothrin sowie Deltamethrin mit jeweils 12 Vergiftungsmeldungen. Die beiden letzteren Wirkstoffe werden auch häufig in Haushaltsinsektiziden (als Biozid) eingesetzt.

6 % der wirkstoffbezogenen Pestizidvergiftungen wurden als schwer oder mittel eingestuft. Von den 6 als schwer eingestuften Vergiftungen gingen je 2 auf das EU-weit nicht mehr zugelassene Parathion, besser bekannt unter dem Namen E605, und auf das Insektizid Dimethoat sowie 1 auf den Herbizidwirkstoff Glyphosat zurück. 1 schwere Vergiftung kann aufgrund von Schwärzung keinem Wirkstoff zugeordnet werden. Von den 42 Vergiftungen durch Glyphosat, die nach Schweregraden aufgeschlüsselt wurden, verliefen 12 % mittel oder schwer. Überraschend für einen angeblich für Menschen ungiftigen Wirkstoff.

Defizite des Meldesystems - unterschätzte Vergiftungszahlen

Weder die Erfassung ärztlicher Meldungen noch die Dokumentation von Vergiftungsfällen wird in Deutschland der Zielsetzung eines funktionierenden Vergiftungsmonitorings gerecht. Das Meldesystem ist durch eine erhebliche Untererfassung gekennzeichnet, wie sich leicht im Vergleich zu anderen Statistiken erkennen lässt. Beispielsweise weist die Krankenhausstatistik für den Zeitraum 2005-2010 mit 1157 Behandlungsfällen infolge der toxischen Wirkung von Pestiziden bereits doppelt so viele Ereignisse aus wie die ärztlichen Mitteilungen im selben Zeitraum (GBE Bund 2014). Und während das BfR lediglich 37 Pestizidvergiftungen als schwer oder mittel (6 als schwer) einstuft, sind in der Todesursachenstatistik im selben Zeitraum 229 tödliche Pestizidvergiftungen dokumentiert! (Moebus et al. 2015)

Diese Unterschätzung der tatsächlichen Vergiftungszahlen ist offenbar Folge eines unzureichend implementierten Meldesystems. Das Kernproblem liegt im Verfahren selbst, denn das Meldesystem steht und fällt mit der Mitarbeit der niedergelassenen Ärzte. Diese Herangehensweise wird seit Langem kritisiert, da die Ärzte weder über die Qualifikation für das Erkennen von Vergiftungen verfügen noch eine Vergütung des Zeitaufwandes für die Meldung erfolgt. Auch die Krankenhäuser kommen der Meldepflicht offenbar nur unzureichend nach, da wie die obigen Zahlen zeigen, zwar viele Pestizidvergiftungen behandelt werden, das BfR aber darüber nicht informiert wird. Das BfR erhält zudem Meldungen von Giftinformationszentren der Bundesländer (GIZ) nur, wenn dort auch die Behandlung erfolgt ist, was aber laut BfR nur für zwei von neun GIZ zutrifft (BfR 2010). (1) Das BfR räumt ein, dass es im Vergleich zu den Giftinformationszentren "sehr viel weniger Meldungen zu Vergiftungen bei Kindern" erhält, während es die Erfassung von arbeitsbedingten Vergiftungen über die Unfallversicherung für nahezu vollständig hält (BfR 2010).

Schließlich ist auch die Dokumentation des Vergiftungsgeschehens unzureichend. Die Berichterstattung erfolgt mit einer Verzögerung von mehreren Jahren, die Stoffe werden zu sehr zusammengefasst, die Zahlen werden nicht mit vergleichbaren, populationsbezogenen Indikatoren und nicht in Zeitreihen dargestellt. Es ist zudem unverständlich, warum die Information, dass eine Vergiftung mit einem bestimmten Wirkstoff eines bestimmten Herstellers stattgefunden hat, vertraulich sein soll.

Umfassende Verbesserungen des Meldesystems sind nötig

Die Erfassung und Dokumentation von Vergiftungen ist ein wesentlicher Bestandteil des Gesundheitsschutzes. Das Monitoring von Vergiftungen kann dazu beitragen, problematische Wirkstoffe, Produkte und Handlungsweisen sowie gefährdete Personengruppen zu identifizieren. Es ermöglicht zudem, Wirkungen von und Handlungsbedarf für Gesetzgebung zu evaluieren.

Das Meldesystem für Vergiftungen in Deutschland ist dringend dahingehend zu überarbeiten, dass die bestehenden Defizite ausgeräumt werden. Es muss sichergestellt sein, dass alle Vergiftungen tatsächlich erfasst werden und die Dokumentationen der Meldungen zeitnah und regelmäßig veröffentlicht werden. Es ist zudem wichtig, Transparenz herzustellen und alle Wirkstoffe, die zu Vergiftungen geführt haben, zu benennen. Die Kategorien in der Auswertung sollten so gegliedert werden, dass die Dokumentation für die Überprüfung der Umsetzung von Gesetzgebungen aussagekräftig sind. Nach dem neuen Biozidrecht, durch das neben Schädlingsbekämpfungsmitteln auch Desinfektionsmittel, Holzschutzmittel und ähnliche Produkte reguliert werden, müssen die Mitgliedsstaaten auch Angaben zu Vergiftungsfällen und ggf. Informationen über spezifische Maßnahmen zur Verminderung von Vergiftungsrisiken alle fünf Jahre an die EU-Kommission berichten (EU 2012).

Neben dem Schutz von Arbeitnehmer/innen sollte ein weiteres zentrales Ziel des Meldeverfahrens sein, mehr Informationen über Vergiftungsfälle bei Privatpersonen - und hier besonders bei Kindern - zu erlangen, um gezielter und schneller Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.

Doch selbst nach diesen notwendigen Verbesserungen würde ein grundsätzliches Problem bestehen bleiben: Ein Meldesystem wird in der Regel nur die kurzfristigen Folgen von Vergiftungen, die sogenannten akuten Vergiftungen, erfassen, nicht aber die chronischen. Obwohl man unter Vergiftungen grundsätzlich alle Gesundheitsstörungen versteht, die durch Einwirkungen von Stoffen zustande kommen, kann dieser Zusammenhang leicht übersehen werden. Symptome, die unspezifisch sind und möglicherweise langfristig nach einer Exposition oder erst infolge einer längerfristigen, schleichenden Exposition auftreten, schlagen sich kaum in den Vergiftungsstatistiken nieder. Vergiftungsstatistiken geben daher lediglich einen Ausschnitt aus dem Vergiftungsgeschehen wieder.

§16 e Abs. 2 ChemGes

(Dr. Wolfgang Bödeker)

Die Verantwortung für den Inhalt des Artikels liegt bei dem Autor.

Anmerkungen

(1) Für 2015 werden nur noch 8 GIZ gelistet http://www.BfR.bund.de/cm/343/verzeichnis-der-giftinformationszentren.pdf (Zugriff 15.5.2016)

Quellen:

BfR 2010
http://www.BfR.bund.de/de/fragen_und_antworten_zur_meldung_von_vergiftungsunfaellen-51510.html (letzter Zugriff 15.5.2016)

BfR 2015. Antrag auf Informationszugang; Dokumentation von Vergiftungen; Eingangsbestätigung. Schreiben an PAN vom 15.1.2016

EU 2012. Art. 65(3)(b) EU-Verordnung 528/2012)

Moebus S, Bödeker W (2015): Mortality of intentional and unintentional pesticide poisonings in Germany from 1980 to 2010. Journal of Public Health Policy.
http://www.palgrave-journals.com/jphp/journal/vaop/ncurrent/abs/jphp201456a.html

PAN 2012: Pestizide und Gesundheitsgefahren -Daten und Fakten. Hamburg.
http://www.pan-germany.org/download/Vergift_DE-110612_F.pdf (Zugriff 15.5.2016)

GBE-Bund 2014. Krankenhausstatistik - Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern, Statistisches Bundesamt, Zweigstelle Bonn

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