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EU-Kommission wegen Säumigkeit bei hormonell wirksamen Chemikalien vor Gericht

18.11.2015, Gemeinsame Presseinformation von PAN Germany, HEAL und WECF

Download der Presseinformation vom 18.11.2015

Hamburg, München, Brüssel, Luxemburg. 18. November 2015.
Gestern befasste sich der Europäische Gerichtshof in einer Anhörung mit der von Schweden eingebrachten und von Ministerrat und EU-Parlament mitgetragenen Klage gegen die EU-Kommission. Gegenstand der Klage ist die Verschleppung gesetzlicher Vorgaben bei der Regulierung hormonell wirksamer Substanzen, sogenannter endokriner Disruptoren (EDCs). (1) Die Koalition aus 60 Organisationen der Zivilgesellschaft "EDC-Free Europe", an der sich auch das Pestizid Aktions-Netzwerk e.V., WECF und HEAL beteiligen, begrüßt ausdrücklich diese Klage und fordert ein rechtskonformes Verhalten von Kommissionspräsidenten Jean-Claude Junker und seinem zuständigen Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis.

Schweden erhob Klage, nachdem die EU-Kommission die in der Biozid-Verordnung festgeschriebene Frist für die Vorlage wissenschaftlicher Kriterien zur Identifizierung hormonell wirksamer Chemikalien im Dezember 2013 ignorierte. In einer bislang einmaligen Allianz stellten sich daraufhin der EU-Ministerrat, das EU-Parlament sowie die drei nationalen Regierungen von Dänemark, Frankreich und den Niederlanden unterstützend an die Seite der Klägerin und gegen die Junker-Behörde. Lisette van Vliet, politische Expertin bei der Health and Environment Alliance (HEAL) beobachtete die Anhörung und stellt fest: "Dass die Mitgliedsstaaten und das EU Parlament gemeinsam die Kommission belangen wollen, belegt eindrucksvoll deren falschen Kurs. Jeder Tag Verzögerung führt zu weiteren Belastungen der europäischen Bevölkerung mit diesen gefährlichen Stoffen und zu Folgeerkrankungen wie Brust- und Prostatakrebs, Diabetes, Fettleibigkeit sowie zu Unfruchtbarkeit und Lernschwächen. Wir erwarten, dass der Europäische Gerichtshof die EU Kommission auffordert, sich an die gesetzlichen Fristen zu halten, um die Gesundheit der europäischen Bevölkerung zu schützen."

EDCs finden sich in Alltagsprodukten wie z.B. Kosmetika, Lebensmittelverpackungen, Schädlingsbekämpfungsmitteln oder Textilien. Indem sie in den hochempfindlichen Hormonhaushalt des Menschen eingreifen, können sie zu Erkrankungen wie Diabetes, Übergewicht, hormonbedingte Krebsarten und Fruchtbarkeitsstörungen beitragen. (2) Für Ungeborene und Kinder können bereits geringste Mengen ein erhebliches Risiko für ihre spätere Entwicklung darstellen. (3) Die jährlichen Kosten in der EU zur Behandlung und Kompensation von Gesundheitsschäden durch EDC werden bei konservativer Rechnung auf ca. 157 Milliarden Euro beziffert.(4)

Susanne Smolka, Biozidexpertin von PAN Germany kritisiert: "Bei der Verabschiedung der Biozid- und der Pestizidgesetzgebung stimmten alle EU-Gremien, auch die EU-Kommission, den Fristen und den Regulierungsvorschriften für diese besonders gefährlichen hormonell wirksamen Stoffe zu. Es handelt sich um eine begrenzte Anzahl von Wirkstoffen, die aber über Rückstände in der Nahrung oder über biozidbehandelte Haushaltsartikel, Baustoffe, Bootsanstriche oder Desinfektionsmittel die Verbraucher und die Umwelt belasten. Die EU-Kommission verzögert nicht nur die vereinbarten und notwendigen Schutzmaßnahmen, sondern hemmt wirtschaftliche Innovationen für Alternativen und behindert Firmen, die solche chemischen und nicht-chemische Ersatzverfahren anbieten."

"Es ist geradezu blamabel, dass sich die EU Kommission lieber vor ein Gericht ziehen lässt, als ihre Vorsorgepflicht zu wahren und aktiv ihre Bürgerinnen und Bürger vor EDCs zu schützen" erklärt Johanna Hausmann, Management Gesundheit und Chemikalien WECF Deutschland. "Besonders Schwangere und Kinder reagieren sehr sensibel auf gesundheitsgefährdende Chemikalien. Mütter geben den Giftcocktail an den Fötus oder beim Stillen an ihr Baby weiter. Bereits geringe Mengen von EDCs können eine große negative Wirkung haben. Es ist Aufgabe der Politik, Menschen vor derartigen Chemikalien, vor allem in Produkten des täglichen Bedarfs, zu schützen. Solange dies nicht geschieht und Interessen der Industrie vor dem gesundheitlichen Wohl der Menschen stehen, ist Aufklärung der einzige Schutz."

Im Sommer 2013 hatte die EU-Kommission nach intensivem Lobbying der Chemie- und Pestizidindustrie die Umsetzung der Gesetzesvorgaben ausgesetzt und stattdessen ein Impact Assessment initiiert, um zu klären welche "sozioökonomischen Auswirkungen" die Umsetzung bereits beschlossener gesetzlicher Regelungen und verschiedene Optionen an Kriterien haben könnten.(5) Mit diesem demokratiepolitisch fragwürdigen Vorgehen verzögert die EU-Kommission die effektive Regulierung von EDCs um zumindest drei weitere Jahre.

Kontakte:

Lisette van Vliet, Senior Policy Adviser, Health and Environment Alliance (HEAL), Mobil +32 484 614 528, E-Mail: lisette(at)env-health.org
Susanne Smolka, Projektkoordinatorin, Pestizid Aktions-Netzwerk e.V. (PAN Germany), Tel.: +49 (0)40 399 19 10-24, E-Mail: susanne.smolka(at)pan-germany.org
Johanna Hausmann, WECF, PR und Projekt Management Chemikalien und Gesundheit, mobil +49 173 8010040, E-Mail: johanna.hausmann(at)wecf.eu

Informationen für Journalisten / Quellen:

(1) Case T-521/14, 4 July 2014 - Sweden v Commission http://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=uriserv:OJ.C_.2014.431.01.0028.02.ENG

(2) Die Endocrine Society veröffentlichte im September 2015 ihr Second Scientific Statement on Endocrine-Disrupting Chemicals, in dem sie betonet, dass es keinen Zweifel mehr darüber gibt, dass EDCs, die in Nahrungsmitteln und Alltagsprodukten gefunden werden, zur Entstehung chronischer hormonbedingter Krankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes und Krebs, beitragen. Die Endokrinologische Gesellschaft ist die weltweit älteste, größte und aktivste Organisation, die sich der Hormonforschung und der klinischen Praxis der Endokrinologie widmet. Ihr zweites Scientific Statement finden sie hier: http://press.endocrine.org/doi/10.1210/er.2015-1010. Das Statement beinhaltet einen Review von 1300 aktuellen Studien zu EDCs. Die Auswertungen stützen und festigen den Beweis des Zusammenhangs zwischen EDCs und gesundheitlichen Problemen wie Fettleibigkeit, Diabetes, Fortpflanzungsstörungen, neurologischen Entwicklungsstörungen etc. http://press.endocrine.org/doi/10.1210/er.2015-1093.

(3) Die Internationale Föderation der Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO), die 125 nationale Organisationen vertritt, hat bei ihrem jüngsten Kongress im Oktober 2015 zu mehr Bemühungen aufgerufen, um die Exposition gegenüber giftigen Chemikalien zu reduzieren. "Dokumentierte Zusammenhänge zwischen prenataler Exposition gegenüber Umweltchemikalien und negativen Gesundheitseffekten überspannen den ganzen Lebensverlauf und haben einen negativen Einfluss auf Fruchbarkeit, Schwangerschaft und neurologischer Entwickling und Krebs. Die globalen Gesundheitsfolgen und die damit verbundenen ökonomischen Belastungen, als Folge der Expositionen gegenübergiftigen Umweltchemikalien, ist höher als Millionen von Toten und Milliarden an Dollars in jedem Jahr (...)" http://www.ijgo.org/article/S0020-7292(15)00590-1/fulltext
http://www.figo.org/news/congress-news-global-ob-gyn-group-urges-greater-efforts-prevent-toxic-chemical-exposure-0015052

(4) Trasande L, Zoeller RT, Hass U, Kortenkamp A, Grandjean P, Myers JP, et al. Estimating burden and disease costs of exposure to endocrine-disrupting chemicals in the European Union. J Clin Endocrinol Metab 2015; 100(4):1245-55.

(5) Corporate Europe, A Toxic Affair, How the chemical lobby blocked action on hormone disrupting chemicals http://corporateeurope.org/sites/default/files/toxic_lobby_edc.pdf

Hintergrund:

Die Europäische Kommission sollte bis Ende Dezember 2013 wissenschaftliche Kriterien zur Identifizierung endokrin wirksamer Substanzen (EDCs) gemäß der Biozidprodukte-Verordnung 528/2012/EG verabschieden. Dies ist nicht geschehen. Das Gesetz, das 2012 verabschiedet wurde, sieht vor, Biozide auf ihre endokrine Wirkung hin zu überprüfen, und falls endokrine Eigenschaften gefunden würden, die zu schädlichen Effekten führen können, dieses Wirkstoffe mit bestimmten Ausnahmen vom europäischen Markt zu nehmen. Die Regelungen der Pestizid-Verordnung (1107/2009/EG) sind diesbezüglich vergleichbar, aber mit strengeren Ausnahmeregelungen versehen. Die vormals zuständige Generaldirektion Umwelt entwickelte nach einem mehrjährigen Expertendialog im Frühjahr 2013 einen Entwurf für die Kriterien. Dieser wurde aber nicht veröffentlicht, da aufgrund massiver Lobbyarbeit seitens der chemischen Industrie und Pestizidunternehmen der Ablauf gestoppt und stattdessen ein Impact Assessment verschiedener Optionen zur Identifizierung und zur Regulierung von endokrinschädigenden Pestiziden und Bioziden initiiert wurde. Unter dem neuen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Junker wurde die Zuständigkeit des Verfahrens sowie die für die Biozidgesetzgebung von der Generaldirektion Umwelt zur Generaldirektion Gesundheit übertragen.

Über den Europäischen Gerichtshof:

http://europa.eu/about-eu/institutions-bodies/court-justice/index_en.htm#goto_7

Die EDC-Free Europe Coalition:

repräsentiert mehr als 50 Gruppen der Zivilgesellschaft in Europa und darüber hinaus. Ziel ist es, Aufmerksamkeit zum Thema EDCs zu erzeugen und zu mehr und schnellerem politischen Handeln zu drängen. Unsere Partner sind Gewerkschaften, Verbraucher, Vertreter der öffentlichen Gesundheit und Vertreter der Gesundheitsberufe, Befürworter der Krebsprävention, Umweltaktivisten und Frauengruppen. Mehr Information finden Sie hier: www.edc-free-europe.org/ Folgen Sie uns auf Twitter @EDCFree und senden Sie likes Facebook

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