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Warum ein Ausstieg aus der Verwendung hormonell wirksamer Pestizide und Biozide immer dringlicher wird, aber trotzdem nichts passiert

05.10.2015, PAN Germany Pestizid-Brief 6-2015, Susanne Smolka

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Ende September 2015 veröffentlichte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) einen Bericht, in dem sie ihre Bewertungen von 41 aktuell im Genehmigungsverfahren befindlichen Pestizidwirkstoffen hinsichtlich ihrer potenziell hormonschädigenden Eigenschaften darstellt. 15 der 41 Wirkstoffe werden von der EFSA als bedenklich hinsichtlich dieser gefährlichen Eigenschaft bewertet. Ebenfalls Ende September veröffentlichte die Endokrinologische Gesellschaft eine Kurzfassung ihrer zweiten wissenschaftlichen Stellungnahme zu endokrinschädlichen Chemikalien. Während die Endokrinologen sehr eindringlich vor den schädlichen Auswirkungen warnen und für Maßnahmen plädieren, die Exposition gegenüber endokrinen Disruptoren einzudämmen, verdeutlicht der Behördenbericht die aktuellen Defizite bei deren Regulierung in der EU.

Endokrine Disruptoren: eine globale Bedrohung

Die Exposition gegenüber endokrinen Disruptoren (1) ist eine globale Bedrohung, so die unmissverständliche Mahnung der Weltgesundheitsorganisation und des Umweltprogramms der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2012. Bereits im Jahr 2009 hatte die Endokrinologische Gesellschaft mit vergleichbarem Tenor ihre erste wissenschaftliche Stellungnahme zum Thema veröffentlicht. Ihre aktuelle, zweite Stellungnahme enthält nun eine umfassende Auswertung der wissenschaftlichen Befunde der letzten fünf Jahre (2). Die Endokrinologen kommen zu einem eindeutigen Schluss: Es gibt keine Zweifel mehr, dass endokrine Disruptoren an der Entstehung chronischer Erkrankungen wie Diabetes, Fettsucht und Krebs beteiligt sind, die Fortpflanzung beeinträchtigen und wichtige Funktionen wie die der Schilddrüse stören und die Entwicklung des Nervensystems beeinträchtigen können. Bereits im März dieses Jahres erregte die Endokrinologische Gesellschaft Aufmerksamkeit mit einer in ihrem Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism veröffentlichten ökonomischen Analyse. Die jährlichen Gesundheits-Kosten durch endokrine Disruptoren (EDs) in der EU beziffert die Studie auf rund 157 Milliarden Euro. Neben den kalkulierten Gesundheitskosten, die durch die Folgen der Exposition gegenüber endokrinen Disruptoren entstehen, ist in der Summe auch der Verlust an Wirtschaftskraft einberechnet, da Beeinträchtigungen der neurologischen Entwicklung zu einer geringeren Leistungsfähigkeit von Individuen und zu einem geringen Bildungsstand führen können (3). Professor Jean-Pierre Bourguignon, der nun die neue Stellungnahme vorstellte, findet klare Worte für die Entscheidungsträger: "The science is clear and it's time for policymakers to take this wealth of evidence into account as they develop legislation" (4).

Der Weg vom Gesetz in die Praxis: verzögert und verschleppt

Im Rahmen der Überarbeitungen des europäischen Pestizid- und Biozidrechts haben die politischen Entscheidungsträger bereits reagiert und einen Ausstieg aus der Verwendung solcher Wirkstoffe vorgesehen, deren endokrin wirksame Eigenschaften schädliche Auswirkungen auf den Menschen haben können. In Ermangelung einheitlicher Identifizierungskriterien wurden jedoch zunächst Übergangskriterien in den jeweiligen Verordnungen festgelegt und die EU-Kommission wurde damit beauftragt, bis Ende 2013 einen entsprechenden Kriterienkatalog vorzulegen. Bis heute verzögert die EU-Kommission jedoch diesen wichtigen Implementierungsschritt und führt derzeit ein sogenanntes Impact Assessment, eine Folgenabschätzung verschiedener Kriterien-Vorschläge durch. Vor 2017 wird nicht mit einem Ergebnis gerechnet. Deshalb hat Schweden mit Unterstützung des EU-Rats gegen die EU-Kommission eine Klage wegen Verschleppung angestrengt.

Die EU-Kommission stellt aber nicht nur mögliche Identifizierungskriterien zur Diskussion, sondern auch die Form der Regulierung an sich. Deshalb droht eine Abschwächung der bereits vereinbarten Vorschriften für Pestizide und Biozide zu Gunsten der Interessen der Industrie (5). Das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) nimmt dabei im Vergleich zu anderen nationalen Behörden in den Mitgliedsstaaten eine herausragend industrienahe Position ein. Besonders problematisch erscheint aus Sicht von PAN die offensichtliche Verquickung von Wissenschaft und Politik beim BfR. So unterscheidet die Behörde auch in ihrem aktuellen Vorschlag nicht zwischen einer wissenschaftlich fundierten Identifizierung von EDs einerseits und ihrer Regulierung im Genehmigungsverfahren andererseits und missachtet damit die Vorgaben des Pestizid- und Biozidrechts (6).

Status Quo der Wirkstoff-Regulierung: Note mangelhaft

Während die unterschiedlichen Interessengruppen über die zukünftigen Hürden für einen Verwendungsausstieg bei endokrin wirksamen Substanzen einen intensiven Diskurs führen, bleiben die Übergangskriterien in Kraft, während die Antragstellungen zur Genehmigungen von Pestiziden und Bioziden kontinuierlich weiterlaufen. Die EFSA hat nun bezüglich aktueller Pestizid-Genehmigungsverfahren ihre Einschätzungen publiziert (7). Eine Aufgabe der EFSA ist es, die Bewertungen der berichterstattenden Mitgliedsstaaten im Rahmen der Wirkstoff-Genehmigung zu prüfen ("pesticide peer-review"). In dem aktuellen Bericht wurden die seit 2014 erschienenen Stellungnahmen der EFSA zu 41 Pestiziden in Bezug auf ihre endokrin wirksamen Eigenschaften zusammengefasst. Die Bewertungen begrenzen sich dabei auf mögliche negative Effekte auf die menschliche Gesundheit, weil die Datenlage zu endokrinen Effekten auf Nichtzielorganismen "leider" nicht ausreiche, um eine Bewertung hinsichtlich ökotoxischer Gefährdungen abzugeben, so der Leiter der Pestizid-Abteilung bei der EFSA Dr Jose Tarazona (8).

Die EFSA identifizierte 15 potenzielle ED-Wirkstoffe unter den 41 untersuchten Wirkstoffen, von denen 11 bereits seit vielen Jahren als Pestizide eingesetzt und derzeit turnusgemäß für die Wiedergenehmigung überprüft werden. Ihre für maximal 10 Jahre erteilten Genehmigungen laufen Ende des Jahres aus. Unter ihnen sind bekannte Herbizide wie Isoproturon, 2,4-D und Amitrol oder das Insektizid Lambda-Cyhalothrin.

PAN Europe analysierte den EFSA-Bericht hinsichtlich der Konsequenzen im Genehmigungsverfahren (9). Es zeigt sich, dass trotz der Hinweise auf endokrinschädliche Eigenschaften und trotz des rechtlich verankerten Ausschlussgebots für solche Stoffe die zuständige Generaldirektion für Gesundheit und Verbraucherschutz (DG SANTE) einen Verwendungsausstieg nicht in Betracht zieht. Im Gegenteil, der zuständige Ständige Ausschuss plädiert für eine Wiedergenehmigung der 11 Wirkstoffe.

Des Weiteren verdeutlicht der EFSA-Bericht, übereinstimmend mit der PAN-Position (10), dass die derzeit gültigen Übergangskriterien nicht geeignet sind, um alle hormonell wirksamen und potenziell schädlichen Wirkstoffe zu identifizieren. Diese Übergangs-Kriterien, die für Pestizide und Biozide identisch sind, identifizieren Wirkstoffe als EDs, wenn sie entweder krebserregend und schädlich für die Fortpflanzung sind (jeweils Kategorie 2) oder wenn sie reproduktionstoxisch sind (Kat. 2) und Effekte auf endokrine Organe wie die Schilddrüse zeigen. 6 der 15 von der EFSA untersuchten Wirkstoffe fallen nach Bewertung der EFSA aber gar nicht unter diese Kriterien, und bei zweien reicht die Datenlage nicht aus.

Das bedeutet also: Wirkstoffe mit endokrin wirksamen Eigenschaften werden derzeit entweder aufgrund von Datenlücken gar nicht als solche erkannt oder sie werden zwar identifiziert, aber nicht angemessen reguliert. Der notwendige Schutz von Mensch und Umwelt vor Expositionen bleibt trotz strengerer Gesetzgebung unzureichend. Bei Bioziden hat dieses Vorgehen noch eine besondere Konsequenz im Genehmigungsverfahren. Beispielsweise wurde Lambda-Cyhalothrin ohne Bedenken als Schädlingsbekämpfungsmittel (außerhalb des Pflanzenschutzes und somit als Biozid) für 10 Jahre zugelassen. Da der Wirkstoff nicht die derzeitigen Übergangskriterien erfüllt, unterliegt er nicht den Regeln der seit 2013 in Kraft getretenen Biozid-Verordnung 528/2012/EG, sondern der älteren Biozid-Richtlinie 98/8/EEG. Diese wiederum sieht keinen Ausschluss von ED-Wirkstoffen vor. Der Wirkstoff wird turnusgemäß erst wieder mit Ablauf der aktuellen Genehmigung im Jahr 2023 überprüft.

Aus der Sicht von PAN führen die Verzögerungen bei der Festlegung von wissenschaftlich fundierten Kriterien zu erheblichen Konsequenzen - positive für die Industrie und negative für Verbraucher und die Umwelt. Der EFSA-Bericht und die von den Endokrinologen zusammengetragenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Zusammenhänge von einer Exposition gegenüber EDs und dem Entstehen von chronischen Erkrankungen, von Unfruchtbarkeit und Krebs untermauern die PAN-Forderung an die Verantwortlichen, schnellstmöglich wissenschaftlich fundierte und umfassende Kriterien für die Identifizierung von hormonell wirksamen Pestiziden und Bioziden festzulegen, wie es bereits für Dezember 2013 vorgesehen war, und für einen zügigen Ausstieg aus deren Verwendung zu sorgen (11).


(Susanne Smolka, PAN Germany)


Anmerkungen

(1) endokriner Disruptor = eine exogene, hormonähnlich wirkende Chemikalie, die schädliche Effekte bei Mensch und Tier auslösen kann
(2) Gore A.C. et al. (2015): Executive Summary to EDC-2: The Endocrine Society's Second Scientific Statement on Endocrine-Disrupting Chemicals: http://press.endocrine.org/doi/pdf/10.1210/er.2015-1093
(3) Transande L. et al. (2014): Estimating Burden and Disease Costs of Exposure to Endocrine-Disrupting Chemicals in the European Union: http://press.endocrine.org/doi/pdf/10.1210/jc.2014-4324
(4) http://endocrinenews.endocrine.org/edcs-linked-to-rising-diabetes-obesity-risk/
(5) EurActiv (2014): Endokrine Disruptoren: "Massiver Lobbydruck auf die EU-Kommission": http://www.euractiv.de/sections/innovation/endokrine-disruptoren-massiver-lobbydruck-auf-die-eu-kommission-310988
(6) ChemTrust (2015): Criteria for identifying endocrine disrupters: CHEMTrust's view on the proposed '4b'option from the German Federal Institute for Risk Assessment (policy briefing): http://www.chemtrust.org.uk/wp-content/uploads/chemtrust-bfr-option-4b-july-2015.pdf
(7) EFSA (2015): Assessment of endocrine disrupting properties in EFSA Conclusions on the Pesticides Peer Review: http://www.efsa.europa.eu/en/supporting/pub/867e
(8) EFSA (2015): EFSA's advances in assessing potential endocrine disrupting pesticides: http://www.efsa.europa.eu/en/press/news/150923?utm_content=hl&utm
(9) PAN Europe (2015): EFSA's report on endocrine disrupters challenges DG SANTE's work: http://disruptingfood.info/en/what-we-do-blog/53-efsa-s-report-on-endocrine-disrupters-challenges-dg-sante-s-work
(10) PAN Europe's position on Commission's Roadmap (Option 1, Interim Criteria): http://www.pan-europe.info/old/Resources/Briefings/PANE%20-%202014%20-%20Position%20on%20EDCs-Roadmap.pdf
(11) PAN Germany (2014): Gemeinsamer offener Brief "Für eine konsequente Umsetzung des Vorsorgeprinzips bei hormonell wirksamen Substanzen" an die Bundesminister für Gesundheit, Umwelt und Landwirtschaft (02.12.2014): http://www.pan-germany.org/download/EDC_Offener%20Brief_BMG_BMUB_BMEL_141202_F.pdf

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